Es ist eine gespenstische Szenerie. In einem abgedunkelten Raum sitzt eine Gruppe älterer Herren vor zahlreichen Globen. Man fühlt sich an den War Room in Dr. Strangelove erinnert. Da ertönt aus dem Off die Frage, ob die Nato für die USA noch von Nutzen sei. „Nein“ ist die eindeutige Antwort. Die Begründung: Die Nato als Institution sei tot, da ihr der Zweck abhandengekommen sei. Aber sie höre nicht auf zu existieren – wie ein Untoter. Und was müsse man tun mit einem Zombie? In den Kopf schießen! Die Runde bricht in Gelächter aus.
Es handelt sich bei den Herren um einige der prominentesten US-amerikanischen Professoren der Internationalen Beziehungen (IB). Das Treffen ist Teil einer Initiative, die Handreichungen für eine „neue“ Rolle der USA in der Welt erarbeiten soll. Finanziert wird das Unterfangen vom Charles Koch Institute. Die dahinter stehenden millionenschweren Unternehmer-Brüder Charles und David Koch sind in der Politik durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung der Tea Party bekannt geworden.
Die oben geschilderte Initiative sollte deutsche Außenpolitiker/innen aufrütteln. Wenn sich in den USA das Bild der „untoten“ – also überflüssigen – Nato festsetzt, hätte dies existenzielle Konsequenzen für Deutschland. Daher ist es höchste Zeit, dass über eine eigene außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Strategie in Deutschland debattiert wird. Die Gründung eines „Strategy Lab“ könnte zu dieser Debatte beitragen. Außerdem muss Deutschland seine Verteidigungsausgaben erhöhen. Nur so kann die nötige Einsatzfähigkeit der Bundeswehr erhöht und Deutschlands Sicherheit gewahrt werden.
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Knapp 15 Millionen US-Dollar haben die Koch-Brüder 2017 an einige der prestigeträchtigsten und einflussreichsten Universitäten und außenpolitischen Think Tanks der USA gespendet. Dazu gehören die Harvard University, das Massachusetts Institute of Technology (MIT), die Notre Dame University, die Tufts University, die Catholic University, die University of California in San Diego, die Eurasia Group Foundation und die Brookings Institution.
Ziel des Charles-Koch-Instituts ist es, eine neue Generation an Außenpolitikexperten auszubilden, die bereit sind sich von den „außenpolitischen Orthodoxien“ des Washingtoner Establishments und dem vorherrschenden Konsens zwischen Demokraten und Republikanern zu verabschieden. Dazu zählen sie unter anderem eine Politik, die zu militaristisch, zu interventionistisch und – folglich – zu teuer ist. Es geht also um eine grundsätzliche Infragestellung der bisherigen Rolle der USA in der Weltpolitik.
Diese Allianz zwischen den Koch-Brüdern und dem außen- und sicherheitspolitischen Establishment ist für Deutschland besorgniserregend. Denn Charles und David Koch haben sie sich stets gegen viele Aspekte der von der USA und ihren Verbündeten aufgebauten Weltordnung ausgesprochen – gegen Peacekeeping-Einsätze, Wiederaufbauprogramme in post-Konflikt-Gesellschaften oder robuste Umweltschutzprogramme. Sollten nun Vertreter des akademischen und außenpolitischen „Mainstreams“ in diesen Tenor einstimmen, würde das auch einer „America first“-Politik und den Attacken Präsident Trumps gegen die liberale Weltordnung Glaubwürdigkeit verleihen und sie gesellschaftsfähig machen. Damit wirken die Spenden der Koch Brothers wie ein trojanisches Pferd für die außenpolitische Community, die bisher sehr transatlantisch geprägt war und eine aktive weltpolitische Rolle der USA unterstützt.
Mittlerweile drohen führende IB-Professoren und Außenpolitikexperten mit einer Aufkündigung der transatlantischen Partnerschaft. Andrew Bacevich (Boston University) kommentiert: „Heute sind die Europäer in der Lage selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Und das müssen sie verdammt nochmal tun. Ihr habt zehn Jahre, um euch selbst zu organisieren. Dann sind wir weg.“ Ähnlich kritisch ist Stephen Walt (Harvard University): „Die Nato ist zu einer US-Sicherheitsgarantie für reiche Staaten in Europa verkommen.“ Und ganz im Trump´schen Narrativ erklärt Christopher Preble (Cato Institute): „Die Nato ist für uns kein guter Deal mehr.“
Gravierende Konsequenzen für Deutschland
Vor dem Hintergrund der neuen Weltunordnung ist der Abschied von transatlantischen Gewissheiten für Deutschland ein Schock. Denn bisher gab Washington außenpolitische Orientierung und sicherheitspolitische Rückendeckung. Deutschland muss nun doppelt Verantwortung übernehmen. Erstens muss es mehr in die eigene Sicherheit und Verteidigung investieren. Und zweitens muss es eine damit verbundene, unbequeme Strategiedebatte führen, die aufzeigt, wie das Land in dieser neuen Lage bestehen kann.
Im Gleichklang mit der zerfallenden internationalen Ordnung und der Schwächung des transatlantischen Bündnisses reduziert sich gefühlt im Wochentakt die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr: Nur knapp die Hälfte aller Tiger- und NH90-Hubschrauber sind einsatzfähig, dazu lediglich ein Drittel aller Eurofighter und Tornados. Von den sechs U-Booten ist momentan nur eines tauchfähig. Und beim Heer stehen nur etwa 50 Prozent aller Panzerhaubitzen und Leopard-2-Panzer zum Einsatz bereit. Auch die eigenen Nato-Bündnisverpflichtungen kann die Bundeswehr derzeit nicht voll erfüllen. Für die Verlegung einer Brigade ins Baltikum würde sie mindestens einen Monat benötigten – und hätte auf Anhieb nicht einmal die benötigte Ausrüstung parat. Diese Situation ist die Folge von kontinuierlichen Budgetkürzungen seit dem Ende des Kalten Krieges, dem hohen Alter der vorhandenen Systeme und der zunehmenden Zahl von Einsätzen weltweit. Diese Zahlen belegen drastisch, dass Deutschland wieder mehr in die eigene Verteidigung investieren muss. Denn ohne Sicherheit ist alles nichts.
Wie schwer sich die Politik jedoch mit dem Thema Geld für die Bundeswehr tut, zeigt stellvertretend der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel. Zu Recht hat er auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2018 darauf hingewiesen, dass ein militärisch stärkeres Deutschland Widerstand in Europa hervorrufen könnte. Deutsche Partner sehen das jedoch anders. In Polen beispielsweise wünschen sich Politiker wie Wissenschaftlerinnen mehr deutsche Verteidigungsausgaben und erklären, dass sie Deutschlands Schwäche für gefährlich halten. Ähnliche Signale kommen aus Frankreich. Paris beabsichtigt – trotz finanzieller Schwierigkeiten – den Verteidigungshaushalt um 40 Prozent anzuheben. Präsident Macron fordert die EU auf eine eigene Interventionstruppe aufzustellen. Will man das europäische Momentum mit Frankreich stärken, darf sich Deutschland dieser Initiative nicht verschließen. Deshalb müssen das militärische Potenzial und die Kampffähigkeit der Bundeswehr – sowohl für Abschreckung und Verteidigung, als auch für Operationen außerhalb Europas signifikant erhöht werden. Als das wirtschaftlich stärkste Land Europas steht Deutschland hier in der Pflicht.
Zweitens, und mindestens genauso wichtig, ist es eine politische und gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, welche Interessen Deutschland hat, und welche Strategien und Instrumente benötigt werden, um die Ziele zu erreichen. Diese Debatte werde für Deutschland sehr anstrengend, warnte Sigmar Gabriel. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Strategie bislang aus den USA kam, während Deutschland höchstens die Taktik beisteuerte. Die mangelnde Weltpolitikfähigkeit zeigt sich auch daran, dass das Thema „Strategielehre“ an deutschen Universitäten ein Nischendasein fristet. Nun, da sich die USA von Europa zu entfernen drohen, fällt der deutschen Politik diese Hypothek auf die Füße. Wegducken ist keine Lösung. Denn, um es mit Gabriel zu sagen, „als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“
Vor vier Jahren wurde diese Debatte vom damaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, dem heutigen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier sowie der Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 bereits begonnen. Enttäuschend ist, wie schnell sie danach wieder versandete. Denn grundsätzliche Fragen von Krieg und Frieden, von Demokratie und Freiheit stehen in Europa und seiner Nachbarschaft wieder ganz oben auf der Agenda. Terror und Gewalt rücken immer näher an die europäischen Grenzen und damit an Deutschland heran. Der Gegensatz zwischen dem möglichen Wegbrechen des US-Schutzschirms einerseits sowie der mangelnden Einsatzfähigkeit der Bundeswehr und fehlender politischer Strategiefähigkeit könnte gravierender nicht sein. Zu Recht spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel davon, dass Deutschland und Europa ihr „Schicksal“ selbst in die Hand nehmen müssen. Das Nachdenken über Existenzfragen muss daher ganz oben auf die politische Agenda und in die Mitte der Gesellschaft rücken.
Genügend zu debattierende Fragen gibt es:
Wie soll sich Deutschland in einer Welt verhalten, in der immer mehr Staaten bereit sind ihr Militär für die Erreichung politischer Ziele einzusetzen? Wie positioniert sich Deutschland gegenüber einer Region wie dem Nahen Osten, in der die zentralen Akteure immer häufiger und offener über Krieg sprechen? Wie würde Deutschland reagieren, wenn beispielsweise Russland im Baltikum und Norwegen einmarschieren würde? Wie will man sich verhalten, in einer Welt, die nur noch auch Fleischfressern besteht? Was genau heißt es, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen müssen. Welche Werte und Interessen sind so elementar, dass man bereit ist sie unter allen Umständen zu verteidigen? Wo gibt es Einflusspotential, um die neu entstehende Weltordnung entlang der eigenen Interessen mitzugestalten?
Um die gesellschaftliche Debatte zu beleben sowie neue Ideen und Strategien zu generieren, bedarf es eines neuen Dialogformats. Ein „Strategy Lab“, angelehnt an das bereits erfolgreich laufende „Peace Lab“, wäre ein erster Schritt. Dort sollte es für Politiker und Expertinnen darum gehen die Umbrüche der Gegenwart besser zu begreifen und zu analysieren, welche machtpolitischen Konsequenzen diese für Deutschland haben. Dazu muss den Blick über den Tellerrand der Tagespolitik gewagt werden. Außerhalb des politischen Berlins, im Rest der Republik, müssen anschließend Politikerinnen und Experten der Bevölkerung erklären, dass das Ringen um Macht und Einfluss (noch) immer Grundzutat in der internationalen Politik ist. Anders als in den letzten zwei Jahrzehnten fechten heute mehr Akteure die Pole-Position des Westens an. Entsprechend ist Deutschland zum Handeln gezwungen. Nur wenn solch eine gesamtgesellschaftliche Debatte gelingt, ließe sich Glaubwürdigkeit der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufbauen.