Berlin Strategy ist ein blog von Stefan Steinicke. Er Analysiert politische, Wirtschaftliche, Technologische und Gesellschaftliche Makrotrends und ihre Auswirkungen auf globale Machtverhältnisse.

Aus zwei mach drei. Europas Antwort auf den KI-Wettbewerb zwischen den USA und China

Ende März 2018 erklärte der französische Staatspräsident Macron, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) die wirtschaftlichen Machtverhältnisse weltweit umwälzt. Denn maschinelles Lernen ermöglicht aus großen und komplexen Datenmengen neue Erkenntnisse abzuleiten. Daraus wiederum lassen sich maßgeschneiderte Dienstleistungen entwickeln, die man sich heute noch nicht einmal vorstellen kann. Laut PricewaterhouseCoopers könnte alleine der Einsatz von KI die Weltwirtschaftsleistung bis 2030 um bis zu 16 Billionen Dollar vergrößern. Da wirtschaftliches Wachstum einhergeht mit politischem Machtpotential, ist zu erwarten, dass die erfolgreichsten KI-Wirtschaften auch über wachsenden politischen Einfluss verfügen werden.

Die USA und China führen in diesem Bereich. Ihre Digital-Unternehmen nutzen KI immer stärker zur Optimierung ihrer Dienstleistungen sowie zur Entwicklung neuer Produkte und Anwendungen. Europa liegt (abgeschlagen) dahinter. Anfang 2018 konstatierte der damalige deutsche Außenminister Gabriel, dass zum ersten Mal jemand die Technologie des Westens ernsthaft herausfordere und Europa technisch abgehängt werden könnte. Um den Turnaround zu schaffen, sollte die EU mit einer drei-Säulen-Strategie reagieren: Kräfte bündeln, neue Digital-Allianzen eingehen und einen Mentalitätswandel herbeiführen.

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den USA und China

KI basiert auf der rechnergestützten Analyse großer Datenmengen, welche wiederum maschinelles Lernen ermöglichen. Die weltweit führenden Technologieunternehmen – in den USA beispielsweise Google, Facebook, Microsoft und in China unter anderem Alibaba, Baidu und Tencent – setzen alle immer stärker auf KI für die Entwicklung neuer Anwendungen und Dienstleistungen. KI-Fähigkeiten entwickeln sich exponentiell. Stärke, im Sinne von ausgefeilteren Algorithmen, führt zu noch mehr Stärke. Deshalb wird es für andere Staaten und Unternehmen immer schwerer werden die Lücke zu den beiden Spitzenreitern zu verkleinern. Bereits heute gehören fünf US- (Apple, Alphabet, Microsoft, Amazon, Facebook) und zwei chinesische Technologieunternehmen (Alibaba, Tencent) zu den 13 wertvollsten Firmen der Welt. Ähnlich sieht es bei der TOP der 100 KI-Start-Ups aus. 77 kommen aus den USA und sieben aus China. Mit SenseTime verfügt China mittlerweile über das wertvollste KI-Start-Up der Welt. Eric Schmidt, Vorstandsvorsitzender bei Alphabet, warnte kürzlich davor, dass China bereits 2025 die USA als Technologie-Supermacht ablösen könnte.

Drei Faktoren sprechen für China: 1. Mehr als in den USA (und Europa), wo teilweise sogar die Forschungsausgaben für KI zurückgefahren werden, investiert China in immer größerem Maße in KI-Grundlagenforschung. Die Konsequenz: Immer mehr Forscher und Entwicklerinnen – auch aus Deutschland – zieht es für die Arbeit nach China. 2.  Chinesische Firmen bekommen leicht Zugang zu riesigen Datenmengen, die der chinesische Staat anhäuft. Dadurch lassen sich Algorithmen schneller verbessern. Im Gegensatz zum westlichen Wirtschaftsmodell verschwimmen die Grenzen in China zwischen Unternehmen und Staat. Im KI-Zeitalter ist dies ein Wettbewerbsvorteil.  3. In China werden neue Technologien blitzschnell angewendet. Prototypen sind häufiger wichtiger, als Marktreife. Chinas Bevölkerung ist sehr offen gegenüber dem Ausprobieren digitaler Angebote. Konsequenz: Bereits heute werden viel mehr reale Tätigkeiten über Smartphone-Apps geregelt, als im Westen – Lebensmitteleinkäufe, Arzttermine, Stromrechnungen, Kleinkredite.

Laut Bundeskanzlerin Merkel ist es besorgniserregend, dass zum ersten Mal seit dem Zeitalter der Aufklärung technologische Innovationen nicht mehr zuerst im Westen entstehen. Um in diesem neuen Kalten Krieg um die Technologieführerschaft zwischen den USA und China nicht nur Zuschauer zu sein, so Gabriel, müsse Europa bessere Antworten liefern als bisher.

Der Kampf um globale Standards: Datenschutz vs. die besten Dienstleistungen

Der KI-Wettlauf wird auch darüber entscheiden, wer die zukünftigen Regeln in der digitalisierten und KI-basierten Weltwirtschaft setzt. Werden dabei europäische Werte wie der Schutz der Privatsphäre oder Datensicherheit noch ausreichend Beachtung finden? Oder werden sich jene Apps und Dienstleistungen durchsetzen, die die effizientesten und personalisiertesten Angebote machen und damit die Nutzer/-innen am stärksten befähigen? Klar scheint, dass im letzteren Fall so viele Daten wie nur möglich gesammelt und ausgewertet werden.

Europa wird in der Frage des Umgangs mit Daten sowohl von den USA, als auch von China herausgefordert. In den USA wird die Entwicklung von KI primär von Privatunternehmen vorangetrieben. Ihre Handlungen sind sie einzig und allein von privatwirtschaftlichen Erwägungen angetrieben.  In China hingegen ist es vor allem der Staat, der Daten erhebt, und sie den staatlichen oder staatsnahen Unternehmen zur Verfügung stellt – nicht zuletzt über die 300 Millionen Überwachungskameras, die es bis 2020 im Land geben wird. Doch auch hier entsprechen die Werte, auf denen das (staats-)wirtschaftliche Handeln basiert, häufig nicht denen Europas.

In Abgrenzung zu diesen beiden Modellen wird in Europa beispielsweise der hohe Datenschutz als globaler Standortvorteil propagiert – Stichwort Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Und tatsächlich überlegt selbst Apple die DSGVO zu übernehmen. Dies wäre ein nicht zu unterschätzender Erfolg, der die extraterritoriale Wirkung des EU-Handelns im Digitalbereich unterstreichen würde. Leider ist es aber mehr als fraglich, ob die DSGVO in den bevölkerungsreichsten Märkten der Zukunft – Asien und Afrika – bei den Konsument/-innen auf Interesse stoßen wird. Da es in diesen Regionen häufig bisher nie einen Datenschutz oder eine gesellschaftlich-philosophische Debatte darüber gab, ist es mehr als nachvollziehbar, dass der Sicherheit von Daten und dem Schutz der Privatsphäre keine übergeordnete Bedeutung beigemessen wird. Ein weiterer Nachteil für Europa kommt hinzu: Die Bevölkerung schrumpft. Damit schrumpft auch das Potenzial an generierten Daten, die wiederum für KI-basierte Datenanalysen genutzt werden könnten. Insofern ist es momentan fraglich, ob die digitalen und durch KI entwickelten Geschäftsmodelle der Zukunft aus Europa kommen werden. Doch wer nicht über die meistgenutzten Digitalplattformen verfügt, wird auch nicht in der Lage sein, die globalen Standards zu setzen, nach denen die neue Weltwirtschaft funktionieren soll. Europa droht in die zweite Reihe abzurutschen. Merkels und Gabriels Befürchtungen könnten wahr werden.

Was ist zu tun? Eine Drei-Säulen-Strategie im globalen KI-Wettlauf

Für Europa geht es beim Thema KI um viel – wirtschaftlich wie politisch. Deshalb sollte die EU mit einer Drei-Säulen-Strategie auf den digital-technologischen Strukturwandel der Weltwirtschaft reagieren.

I. Kräfte bündeln: Eine EU-KI-Strategie

Europas Souveränität kann nur über die EU gewährleistet werden. Um im globalen KI-Wettlauf vorne mit dabei zu sein, braucht es eine einzige EU-KI-Strategie und nicht (bald) 27 nationale Ansätze. Wenn jeder Mitgliedsstaat einzeln voranschreitet, macht man sich gegenseitig den europäischen Markt kaputt. Eine EU-KI-Strategie sollte vor allem zu folgenden Fragen und Überlegungen Position beziehen:

1. Digitaler Binnenmarkt: Ein digitaler Binnenmarkt muss schnellstmöglich innerhalb der EU hergestellt werden. Dazu braucht es einheitliche Regulierungen und gleichwertige Infrastruktur. Ansonsten drohen, um es ganz platt zu sagen, selbstfahrende Autos an einer Landesgrenze stehen zu bleiben.

2. Digitale Wirtschaftszonen: Auch ist zu überlegen, ob spezielle digitale Wirtschaftszonen eingerichtet werden können, die von bestimmten Regulierungen befreit sind, um Innovationen schneller vorantreiben zu können. So könnten Prototypen von Produkten, Dienstleistungen und Prozessen in designierten Zonen schneller auf ihre Alltagstauglichkeit getestet werden. Diese „Reallabore“ könnte man beispielsweise in einigen der wirtschaftlich am meisten gebeutelten Mitgliedstaaten aufbauen. So würde man Solidarität nach innen und Zukunftsfähigkeit nach außen signalisieren.

3. Institutioneller Re-Launch: Präsident Macron hat bereits im September 2017 die Gründung einer Europäischen Agentur für disruptive Technologien gefordert. Die Joint European Disruptive Innovative (J.E.D.I.) auf europäischer Ebene oder der Cyber Innovation Hub (CIH) der Bundeswehr sind erste vielversprechende Schritte. Diese Entwicklungen hin zu agileren Institutionen müssen rasch auf europäischer und nationaler Ebene angenommen werden.

Für all dies braucht es einen schnellen und umfassenden Mentalitätswandel in Bürokratie und Politik. Denn nur wenn Europa im Inneren ausreichend KI-freundlich aufgestellt ist, kann es gelingen, eigene Digitalplattformen sowie KI-basierte Geschäftsmodelle erfolgreich aufzubauen.

II. Neue Digital-Allianzen: Co-Working Space Meets Diplomacy

Darüber hinaus muss die EU noch stärker digitale Allianzen aufbauen. Denn gemeinsam lässt sich eher eine kritische Masse herstellen, die nötig ist, um die eigenen Werte und Interessen in die neuen Spielregeln einzubringen. Vor allem mit Digital-Unternehmen muss klassische Außenpolitik stärker kooperieren. Wie so etwas aussehen kann, zeigt sich an der dänischen TechPlomacy. Als erstes Land hat es einen Digital-Botschafter ernannt. Dieser unterzeichnete erst kürzlich ein Partnerschaftsabkommen mit dem World Economic Forum (WEF), um so den Dialog zwischen Staaten, Unternehmen und der Zivilgesellschaft bei der Aus- und Neugestaltung von Regularien und politischen Rahmenbedingungen für die digitale Revolution zu intensivieren. Auch Deutschland hat mittlerweile einen Digital-Botschafter ernannt.

Es reicht aber nicht eine Digitalabteilung in der Zentrale zu haben oder eine mobile Botschaft im Silicon Valley zu eröffnen. Man braucht auch mehr diplomatische Präsenz an den anderen digitalen hot spots der Welt. Diese können keine klassischen Auslandsvertretungen sein. Aber Deutschland und die EU brauchen mehr Augen und Ohren in genau jenen Städten, in denen die digitalen und KI-basierten Erfolgsmodelle der Zukunft entstehen. Nur so lässt sich ein rascher Innovationsaustausch sicherstellen. Warum eröffnen nicht mehrere EU-Mitgliedstaaten oder direkt der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) in genau diesen digitalen hot spots Coworking Spaces, die einerseits der lokalen Start-Up-Community offenstehen und gleichzeitig Anlaufpunkt und Arbeitsplatz europäischer Diplomat/-innen sind? Europas Diplomatie braucht digitalen Expeditionsgeist.

III. Mentalitätswandel herbeiführen: Lust auf die Zukunft wecken

Wer in der heutigen Umbruchsphase Risiken eingeht, wird vermutlich mit zu den Anführern von morgen gehören. Die wahrscheinlich größte gesellschaftliche Herausforderung ist es daher, wieder Lust auf die Zukunft zu machen und den vielfältigen Veränderungen neugierig entgegenzugehen. Dazu müssen, neben die ohne Zweifel existierende Ingenieurskunst in Deutschland und Europa, in viel stärkerem Maße Innovationsgeist und Investitionsrisikobereitschaft treten. Zentral dafür ist es wiederum, die kreativen Fähigkeiten der Bevölkerungen zu stärken. So können nicht nur neue Produkte entstehen, sondern auch das Selbstbewusstsein gestärkt werden, Veränderungen spielerisch und erfolgreich zu managen. Wenn es in Europa gelingt, wieder mit mehr Neugierde, Mut und Vorfreude in die Zukunft aufzubrechen, können disruptive Erfolge in der KI-basierten Wirtschaft gelingen. Und damit böte sich der EU die Chance auch zukünftig Regelmacherin zu sein, anstelle zu einer Regelnehmerin zu werden.

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