Die Weltwirtschaft unterliegt einem rasanten Wandel. Um den Standort Deutschland erfolgreich aufzustellen, müssen Politik und Unternehmen mehr Wirtschaftssicherheit wagen.
Mit seinem stark auf Außenhandel ausgerichteten Wirtschaftsmodell und enger Verwobenheit mit dem US-amerikanischen und chinesischen Markt ist Deutschland besonders von der zunehmenden Geopolitisierung der Weltwirtschaft betroffen. Ein pures „Weiter so“ der aktuellen Politik wäre fatal. Vielmehr bedarf es entschiedener Anpassungen in Strategie und Institutionen am Standort Deutschland.
Die Veränderungen in der Weltwirtschaft sind rasant und grundlegend. Geopolitik statt Globalisierung strukturiert heute Liefer- und Wertschöpfungsketten. Haupttreiber dafür ist der sich zuspitzende Konflikt zwischen den USA und China. Ob 5G, Halbleiter oder kritische Rohstoffe, immer häufiger versuchen Washington und Peking einseitige Abhängigkeiten in strategischen Sektoren für geopolitische Geländegewinne auszunutzen.
Sanktionen, Exportkontrollen und Industriepolitik werden zum Instrument der Wahl im geopolitischen Wettstreit. Die Zollerhöhungen auf chinesische Elektroautos durch die USA und die EU-Kommission sind jüngstes Zeichen dieser Entwicklung und prägten auch die kürzlich beendete China-Reise von Wirtschaftsminister Hobeck.
Berlin kommt eine entscheidende Rolle dabei zu, Europa auf weitere geoökonomische Disruptionen vorzubereiten und an der proaktiven Gestaltung von Wirtschaftssicherheit und eigenen geoökonomischen Hebeln mitzuwirken. Um den Standort Deutschland für dieses neue Zeitalter erfolgreich aufzustellen, müssen Politik und Unternehmen mehr Wirtschaftssicherheit wagen. Eine engere Koordinierung innerhalb der Bundesregierung sowie zwischen Privatsektor und Politik ist unabdingbar, um ein besseres und gemeinsames Verständnis der Herausforderungen zu entwickeln und basierend darauf gemeinsam zu handeln. Die folgenden fünf Elemente könnten dazu beitragen:
1. Sonderbeauftragter für Wirtschaftliche Sicherheit
Wirtschaftliche Beziehungen werden immer mehr unter dem Brennglas nationaler Sicherheit und geopolitischer Erwägungen betrachtet. Um darauf zu reagieren, braucht es ein stärkeres ressortübergreifendes Handeln – von Außen-, Innen- und Verteidigungspolitik zu Forschung und Finanzen. Dieses braucht es nicht nur punktuell, wie im Zuge der Erarbeitung der deutschen Nationalen Sicherheits- und China-Strategie, sondern es muss ein stetiger, institutionell verankerter Prozess sein. Andere Länder machen es vor: Japan führte einen Kabinettsposten für Wirtschaftliche Sicherheit ein, Südkorea ein Komitee für Lieferkettenstabilität. In Großbritannien ist Wirtschaftssicherheit als Unterkomitee des Nationalen Sicherheitsrats in breitere außen- und sicherheitspolitische Erwägungen integriert und wird um einen neu gegründeten Rat für kritische Importe ergänzt; in den USA die koordinierende Rolle des Nationalen Sicherheitsrats gestärkt, einschließlich über einen neuen Rat zur Resilienz von Lieferketten.
Die Position eines Sonderbeauftragten für wirtschaftliche Sicherheit, angesiedelt im Kanzleramt, könnte dazu beitragen, Strategien und Maßnahmen der verschiedenen Ressorts zu koordinieren, Empfehlungen zu formulieren, sowie als Ansprechpartner für wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure und internationale Partner zu fungieren. Unter der Leitung gälte es auch, den neu gegründeten aktuell BMWK-geführten Ressortkreis „Wirtschaftssicherheit“ in Ressourcen und politischem Gewicht zu stärken.
2. Kommission für Wirtschaftliche Sicherheit
Ergänzt werden sollte diese Position um eine Kommission für Wirtschaftliche Sicherheit, bestehend aus Vertretern und Vertreterinnen aus Politik, Wissenschaft sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, geleitet von dem Sonderbeauftragten und unterstützt von einem Sekretariat. Aufgabe dieser Kommission wäre es, kritische Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten in strategischen Sektoren mit Blick auf Importe, Exporte und ausländische Investitionen zu analysieren und darauf aufbauend Handlungsempfehlungen an Politik und Wirtschaft zu formulieren.
Die Arbeit der Kommission sollte schnellstmöglich beginnen und jährlich in einem öffentlich diskutierten Report münden. Ziel wäre es, ein gemeinsames Verständnis von Politik und Privatwirtschaft darüber zu fördern, was das Mantra „kluges De-Risking anstelle von Decoupling“ in der Praxis bedeutet und welche Implikationen es für das deutsche Wirtschaftsmodell mit sich bringt.
3. Wirtschaftssicherheitsstrategien
Die Empfehlungen der Kommission könnten die Grundlage für eine ressortübergreifende Wirtschaftssicherheitsstrategie bilden. Während wirtschaftliche Sicherheit als ein zentrales Ziel in der Nationalen Sicherheitsstrategie, der China- sowie der Industriestrategie formuliert wird, fehlt ein übergreifendes Dokument, das geopolitische und geoökonomische Entwicklungen analysiert und daraus strategische Schlüsse für deutsche Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- , Forschungs- und Finanzpolitik zieht. Instrumenten wie Sanktionen oder Investitionskontrollen fehlt damit die strategische Einbettung und politische Zielformulierung.
Sollte eine solche Strategie in der aktuellen Legislatur nicht mehr umsetzbar sein, sollte sie zu Beginn der kommenden stehen – und die Grundlage für weitere, sektorspezifische Strategien bilden. Anders als beispielsweise im Falle der britischen Regierung, die in den letzten zwei Jahren Strategiedokumente zu kritischen Mineralien, Halbleitern, kritischen Importen und Lieferketten sowie Sanktionen veröffentlichte, beschränkt es sich in Deutschland auf die 2023 aktualisierte Rohstoffstrategie.
4. Datenhub zu Liefer- und Wertschöpfungsketten und Expertiseaufbau zu wirtschaftlicher Sicherheit
Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit der obigen Institutionen und ein effektives De-Risking sind detaillierte Informationen und entsprechende Analysefähigkeiten zu Abhängigkeiten in globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten, getreu dem Motto „you can only manage what you can count“. Unternehmen und Ministerien bauen ihre eigenen Analysefähigkeiten zwar aus. Zu selten werden die Recherchen und Analyseinstrumente jedoch abgestimmt. Erkenntnisse fließen kaum zusammen. Notwendig wäre ein gemeinsamer Daten- und Analysehub, möglicherweise angesiedelt bei dem Sonderbeauftragten.
Dieses Zentrum könnte auch die Koordinierung mit der EU-Kommission vereinfachen, die über eigene, umfassende Daten und Auswertungen verfügt. Der Hub sollte eng mit wissenschaftlichen Einrichtungen zusammenarbeiten und Analyseaufträge vergeben können. Die Ergebnisse sollten dabei auch explizit für den Bundestag zugänglich sein.
Der Analysehub könnte ferner als Koordinierungsstelle zwischen Wirtschaft und Politik fungieren. Aktuell bleibt der Austausch von Informationen und Daten zu privatwirtschaftlichen Liefer- und Wertschöpfungsketten weitgehend aus. Die Datenlage bleibt für die deutsche Regierung so sehr dünn – im Kontrast zu den granularen Einblicken in China, wo beispielsweise Exporteure von kritischen Rohstoffen dazu verpflichtet sind, detaillierte Informationen zu den Abnehmern der Produkte an das Handelsministerium zu melden.
Aber auch die USA, Japan und Südkorea schufen die gesetzliche Grundlage, um Informationen von Unternehmen in bestimmten kritischen Sektoren einfordern zu können. In Deutschland steht die Debatte dazu noch aus. Sie muss zügig geführt werden und dabei auch verdeutlichen, worin der konkrete Mehrwert für Unternehmen im Teilen entsprechender Daten liegt.
5. Unterausschuss zum Nexus aus Außen- und Technologiepolitik und Expertiseaufbau im Bundestag
Neben der tieferen ressortübergreifenden Koordinierung auf Regierungsebene gilt es, auch unter den Parlamentarierinnen und Parlamentariern die Debatte zu Fragen der wirtschaftlichen Sicherheit und den außen- und sicherheitspolitischen Implikationen von wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen zu schärfen – schließlich sind es die Abgeordneten, die über Gesetzesinitiativen zu wirtschaftlicher Sicherheit abstimmen und die Debatten in die Wahlkreise tragen.
Dafür sollte zum einen in der kommenden Legislaturperiode ein neuer Unterausschuss gegründet werden, dem sowohl Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses als auch des Wirtschaftsausschusses angehören. Zum anderen sollten Mittel bereitgestellt werden, um Weiterbildungsprogramme von Think Tanks oder wissenschaftlichen Einrichtungen für Abgeordnete und ihre Mitarbeitenden zu schaffen. Das kürzlich gegründete Tech-Training-Fellowship zwischen den USA, Japan und Südkorea gibt ein Beispiel, wie mehr Technologieexpertise und Verständnis für Wirtschaftssicherheit in die Politik gebracht werden kann. Hier hat Deutschland Nachholbedarf.
Zuerst erschienen in der WirtschaftsWoche.