Das Ende der Corona-Pandemie und ihre Folgen sind noch nicht absehbar. Aber wie unter einem Brennglas werden geopolitische Makro-Trends sichtbar, die auf absehbare Zeit die internationale Ordnung beeinflussen: Die USA verlieren ihre ordnungspolitische Glaubwürdigkeit, China versucht mit aller Wucht in diese Lücke zu stoßen und internationale Abstimmung im Kampf gegen Corona scheitert am Systemwettbewerb zwischen Washington und Peking.
1. Die USA verlieren an Ansehen als globale Ordnungsmacht
In der Vergangenheit beruhte ein gewichtiger Teil amerikanischer Soft Power auf der Kompetenz der US-Administration sowie den politischen Institutionen effektiv und kompetent auf Probleme zu reagieren. Der Umgang der USA mit Herausforderungen wurde so oft zum Maßstab und Vorbild für andere Länder. In der Corona-Krise taumeln die USA nun innenpolitisch. Während der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation ging der Dow Jones auf Talfahrt - ein Ausdruck des tiefen Misstrauens der Finanzmärkte gegenüber dem Krisenmanagement der Regierung. Innenpolitische Spaltung sowie gesellschaftliche Polarisierung des Landes erschweren parteiübergreifendes Handeln. In fast keinem anderen westlichen Land wurde so spät mit medizinischen Gegenmaßnahmen auf das sich ausbreitende Virus reagiert. Dadurch wird das globale Vertrauen in die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit der USA stark erschüttert.
Die Zahlen der Corona-Erkrankten und an dem Virus Verstorbenen steigen rasant. Gleichzeitig verzeichnet das Land eine Rekordzunahme an Arbeitslosen. Innerhalb von zwei Wochen haben sich 10 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Weder 9/11 noch die Finanzkrise 2008 führten zu solch einem Anstieg. Mit den wirtschaftlichen, gesundheitlichen und psychischen Folgen der Krise wird die Gesellschaft lange zu kämpfen haben. Die ungleiche wirtschaftliche Erholung nach der Finanzkrise hat mit zum Aufstieg von Tea Party, Trump und „America First“ beigetragen. Nach der Corona-Krise drohen ähnliche Entwicklungen. Dadurch bleibt noch weniger Kraft für internationales Engagement.
Bereits heute verzichten die USA auf eine globale Führungsrolle bei der Bekämpfung der Pandemie. Das ist ein großer Unterschied zu früheren Krisen. Nach 9/11 und in Folge der internationalen Finanzkrise 2008 führten die USA eine breite internationale Koalition an und präsentierten sich als Problemlöser Nummer 1. 2014 sendete das Land in der Ebola-Krise mehr als 3.000 Soldaten nach Afrika und setzten sich an die Spitze der internationalen Krisenreaktion. Ähnliches erwartet heute leider niemand mehr von den USA. Das chaotische Agieren der US-Regierung im Inneren führt dazu, dass die USA nicht mehr als Problemlöser in der Welt angesehen werden. Damit verlieren sie ihre ordnungspolitische Glaubwürdigkeit.
2. China ist gewillt das ordnungspolitische Vakuum der USA zu füllen
Gleichzeitig positioniert sich China als effektiver Problemlöser im eigenen Land und verantwortliche globale Ordnungsmacht. Klar ist, dass China anfangs stark mit der Corona-Krise zu kämpfen hatte. Und bis heute herrschen Zweifel an der Korrektheit der offiziellen Infektions- und Todeszahlen im Land. Aber davon ungeachtet sendet China mittlerweile Hilfslieferungen in die ganze Welt und teilt neueste virologische Erkenntnisse mit der internationalen Forschungsgemeinschaft. Eine Rolle, die bis vor Kurzem die USA innehatten. Und je chaotischer und nach innen gewandt die US-Regierung auf die Krise reagiert, umso effektiver und verantwortungsvoller erscheint Chinas handeln.
Pekings humanitäre Hilfsdiplomatie wird dabei verbunden mit einer fundamentalen Systemkritik. Mit Hinweis auf die erfolgreiche Corona-Bekämpfung in Wuhan und das Wiederhochfahren der heimischen Wirtschaft wird darauf verwiesen, dass Chinas System effektiver und westlichen Modellen überlegen sei. Ähnlich wurde schon in der internationalen Finanzkrise 2008 argumentiert. Durch die wirtschaftlichen Verwerfungen in den USA und Europa hat die Problemlösungsfähigkeit westlicher Staaten damals nachhaltig an Glaubwürdigkeit verloren. Chinas System dagegen hat weltweit an Zuspruch gewonnen. Diese Entwicklung droht sich jetzt zu wiederholen.
Aber vor allem im Versuch die USA in der Corona-Krise zu delegitimieren zeigt sich, wie robust China versucht den eigenen Aufstieg voranzubringen. Chinesische Regierungsvertreter bringen über staatliche Medien und globale Kommunikationsplattformen verschiedene, sich gegenseitig wiedersprechende Thesen und Verschwörungstheorien über den Corona-Ausbruch in Umlauf. Dazu gehört der Vorwurf, die US-Armee habe das Virus nach Wuhan gebracht. Gleichzeitig wird die in China weitgehend wiederhergestellte Normalität mit den chaotischen Zuständen in den USA scharf kontrastiert. Dieser „war of words“ unterstreicht Chinas Willen zum weltpolitischen Aufstieg.
3. Global abgestimmte Corona-Gegenmaßnahmen? Fehlanzeige!
In einer idealen Welt wäre die Pandemie die perfekte Möglichkeit für die USA und China, die bilateralen Spannungen beiseite zu lassen und sich an die Spitze einer global abgestimmten Initiative im Kampf gegen das Virus zu setzen. Solch ein Szenario ist wegen des Großmachtkonflikts unwahrscheinlich. Daher werden auch multilaterale Foren, wie der UNO-Sicherheitsrat, die G7 oder die G20, die Herz und Maschinenraum der internationalen Ordnung sind, keine effektiven Gegenmaßnahmen bereitstellen können. Je weniger diese Institutionen zur Lösung der Corona-Krise und den weltweiten Folgen beitragen können, desto weniger Legitimität hat die internationale Ordnung in den Augen der Menschen weltweit.
In der heutigen Krise zeigt sich ein großer Unterschied zur Finanzkrise 2008. Damals haben Europa, die USA und China an einem Strang gezogen. Die G20 in ihrer jetzigen Form wurden aus der Taufe gehoben. 2020 scheint solch ein koordiniertes und entschiedenes Vorgehen illusorisch. Denn der geopolitische Kontext hat sich verändert. Die USA und China glauben entweder nicht mehr an den Mehrwert globaler Kooperation. Oder noch schlimmer, sie kalkulieren, dass sie aus dem Fehlen globaler Kooperation einen machtpolitischen Gewinn ziehen können.
Diese Ausgangslage ist aus zwei Gründen verheerend: Erstens werden die gesundheitlichen Folgen von Corona die sich entwickelnde Welt am härtesten treffen. Um die Auswirkungen dort abzufedern bräuchte es ein international koordiniertes Vorgehen. Nur so können Menschenleben gerettet werden und nur so kann verhindert werden, dass das Virus zurück in Gegenden gelangt, in denen es bereits besiegt wurde. Ohne globale Führung durch die USA und China wird jede internationale Anstrengung hinter ihrem Potential zurückblieben.
Zweitens hat die Weltwirtschaft eine in Friedenszeiten einmalige Vollbremsung hingelegt. Den gleichzeitigen Stopp von Produktion und Konsum hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Daher fehlen auch noch die richtigen Ansätze und Instrumente, um die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln. Umso wichtiger wären zwischen den Staaten eng abgestimmte Finanz- und Wirtschaftsmaßnahmen, um eine Weltwirtschaftskrise abzuwenden. Doch niemand übernimmt dafür die Führung. So droht die Weltwirtschaft größeren Schaden zu nehmen, als in der internationalen Finanzkrise.
Deutschland steht unter Zugzwang eigene ordnungspolitische Angebote zu entwickeln
Jede internationale Ordnung wird immer nur so lange als legitim angesehen, wie deren zentrale Akteure und Institutionen effektiv die Probleme der jeweiligen Ära lösen. In Krisen stehen die bekannten Herangehensweisen und damit verbundene Ideen, wie die Welt funktioniert, offen zur Debatte. Und alles, was in der Krise nicht mehr Probleme löst, verliert an Glaubwürdigkeit. Die USA sind mit der Krise im eigenen Land am Rande der Überforderung und nicht Willens Problemen auf internationaler Ebene entschieden zu begegnen. Deutschland hat von der US-geprägten Weltordnung überdurchschnittlich profitiert. Nun muss es eigene ordnungspolitische Angebote entwickeln. Denn in Zeiten des Umbruchs genießen nur jene Akteure Glaubwürdigkeit und Handlungsspielraum, die auf neue Herausforderungen konkrete Lösungen anbieten.
Dazu drei erste Gedanken:
1. Deutschland muss ordnungspolitische Ideen für die Zukunftsfähigkeit der EU entwickeln
In Zeiten von Weltunordnung und Großmachtkonkurrenz ist eine krisenfeste EU Deutschlands beste Rückversicherung gegen sicherheitspolitische und wirtschaftliche Bedrohungen. Für eine effektive Reaktion auf heutige Probleme braucht es aber eine vertiefte Zusammenarbeit. Nur durch die Entwicklung neuer und erfolgversprechender EU-Handlungsansätze bei Klima, Digitalisierung, Wirtschaftswachstum und sozialem Zusammenhalt wird Europa als ordnungspolitische Alternative in der Welt wahrgenommen. In Deutschland muss darüber debattiert werden, welche Rolle das Land bereit ist, bei der Gestaltung der EU zu spielen. Die Parteien sollten damit bereits heute beginnen. Im kommenden Bundestagswahlkampf müssen ernsthafte Visionen und Konzepte für die Stärkung der Zukunftsfähigkeit der EU vorliegen. Dazu gehören Antworten auf folgende Fragen: Wie könnte eine europäische Seidenstraße aussehen, um Europas Infrastrukturlücken zu füllen und den Schengenraum zukunftsfit zu machen? Wie kann die wirtschaftliche und finanzielle Angleichung innerhalb der Eurozone gelingen, damit Europas Wirtschaft nicht auseinanderbricht und der Euro zu einer globalen Schlüsselwährung aufsteigen kann? Wie könnte ein europaweites 5G-Netz aufgebaut werden, welches gleichzeitig als Rückgrat kritischer Infrastruktur und als Beschleuniger für den Green Deal der EU fungiert? Die Zukunft Europas muss eine zentrale Rolle in der deutschen politischen Debatte spielen.
2. Deutsche Innenpolitik muss die außenpolitische Relevanz ihres Handelns erkennen
Die Innenpolitik muss dafür sensibilisiert werden, wie wichtig Deutschlands ordnungspolitische Glaubwürdigkeit ist, um die liberale Demokratie im Inneren des Landes überhaupt aufrechterhalten zu können. Denn der Erfolg oder Mißerfolg der innenpolitischen Maßnahmen bei der Bearbeitung der derzeitigen Gesundheits- und Wirtschaftskrise entscheidet auch über Deutschlands Ansehen in der Welt ist. Infolge der internationalen Finanzkrise und den sich daraus ergebenden innenpolitischen Umwälzungen hat das westliche Modell international an Strahlkraft verloren. Deshalb sind alle Gesetze und Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, von so großer Bedeutung. Wenn die Konzepte in Deutschland funktionieren und soziale wie wirtschaftliche Verwerfungen verhindert werden, wird Deutschlands politisches System als erfolgversprechendes Modell in der Welt angesehen. Deshalb darf bei allen anstehenden Entscheidungen beispielsweise auch nicht nur durch die reine ökonomische Lehre angewendet werden. Die sofortige Ankündigung ausreichend Kredite und Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen, ist in dieser Hinsicht ein positives Signal. Denn politische Glaubwürdigkeit verlieren Deutschland, Europa und der Westen eher durch Millionen von Arbeitslosen infolge von Sparmaßnahmen, als durch ein temporäres Überschreiten der Maastricht-Kriterien.
Mehr als in vorherigen Jahren, haben innenpolitische Entscheidungen einen großen Einfluss auf Deutschlands ordnungspolitische Glaubwürdigkeit. Diese wiederum wird immer stärker benötigt, um im aufziehenden Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und autokratischen Systemen zu bestehen. Umso wichtiger wäre es, dass im Bundestag nicht nur bei anstehenden Verlängerungen der Bundeswehrmandate über internationale Politik gesprochen wird. Eine jährliche Aussprache über Deutschlands Rolle in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, ist mehr als überfällig. Sie könnte den Weg ebnen zu einem strategischeren Dialog zwischen Innen- und Außenpolitik.
3. Deutschland muss sich in den ordnungspolitischen „Swing States“ engagieren
Während einer globalen Krise wird deutlich welche Ansätze funktionieren und welcher Staat die drängendsten Probleme effektiv lösen kann. In Zeiten von Corona gibt es eine globale Wahl, bei der die Menschen mit darüber abstimmen, welches Regierungs-, Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell als erfolgreich angesehen wird. Umso wichtiger, dass deutsche Außenpolitik in den zentralen „Swing States“ präsent ist und bei der Bearbeitung der Corona-Pandemie und den vielen Folgeproblemen hilft. Vieles spricht dafür, dass Corona zu den größten Verwerfungen in Afrika führen wird. China ist dort bereits sehr aktiv. Über die Botschaften werden Masken und weitere Schutzausrüstung verteilt. Huawei stellt technologisches Equipment zur besseren Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung. Und die Jack Ma Foundation sendet Hilfslieferungen in jedes afrikanische Land.
Bis Herbst dieses Jahres will die EU eine neue EU-Afrika-Strategie erarbeiten. Darauf kann der afrikanische Kontinent in Krisenzeiten aber nicht warten. Deutschland und Europa müssen jetzt improvisieren und im Zuge humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe ein neues Level an euro-afrikanischer Zusammenarbeit entwickeln. Wie wäre es also mit einem Austauschprogramm für Ärzte- und Pflegepersonal zwischen Europa und Afrika? Könnte nicht eine digitale Konnektivitäsinitiative gestartet werden, um kurzfristig einen Beitrag im Kampf gegen Corona zu leisten und langfristig die wirtschaftliche Verbindung beider Märkte voranzutreiben? Und sollte Europa nicht einen stärkeren Fokus auf die Urbanisierung in Afrika legen? Dort werden in Kürze die meisten Menschen auf dem Kontinent leben. Will man weitere Epidemien und Gesundheitskrisen verhindern, müssen die Städte menschenfreundlicher gestaltet werden. In der Coronakrise muss innovativ und unkonventionell gedacht werden. Klappt das nicht, kommt der EU-AU-Gipfel im November 2020 zu spät.